Es war um die Weihnachtszeit 2023. Mein Kollege Ari Denaro lud mich auf einen Drink ins Psycho-KitKat ein. (Sex-)Clubbing ist für mich mit knapp 50 zwar nicht mein Ding, aber es bleibt für mich reizvoll, an der Türe zu sagen: „Ich stehe auf der Gästeliste, ich bin der Dominus.“

Ari ist kein Master im eigentlichen Sinne. Er ist eher Exhibitionist und lässt andere gegen Geld zusehen oder mitspielen. Ich klärte ihn auf, dass auch solche Dienste bei einem Sexkaufverbot für seine Kund*innen unter Strafe stehen werden. Mit anderen Worten: man würde ihn nicht mehr bezahlen dürfen, sondern würde dafür bestraft. Dann müsste er seine fulminanten Bühnenshows in irgendwelchen Hinterzimmern präsentieren. Die Bühnen, zum Beispiel bei der Venus-Messe, wo ich ihn kennenlernte, wären für ihn tabu. Apropos Venus: Die Hauptausstellungsbranche der Messe, die Pornoindustrie, steht als Nächstes auf der Verbotsliste. Denn die Verfechter:innen des Sexkaufverbotes sagen: „Pornographie ist gefilmte Prostitution“. Wobei ich dem inhaltlich sogar zustimme, das aber eben überhaupt nicht negativ bewerte.

Das so genannte Sexkaufverbot steht wohl demnächst im CDU-Parteiprogramm. Also der Partei, die wahrscheinlich die nächste Bundesregierung stellt.

Ari war erschüttert. Wie vielen anderen war ihm das drohende Aus der sexuellen Freiheit nicht bewusst. Ganz nebenbei war ich dank ihm nun kostenlos im KitKat – in diesem zweiten KitKat, dem „Psycho“, direkt neben dem Eigentlichen. Es ist alles sehr kinky eingerichtet und wird dem feinen Berliner „Arm-aber sexy-Charme“ gerecht.

Männlich gelesene Personen laufen süß in Unterhöschen rum, die Mädels fein aufgestrapst. Ich bin altersgerecht gekleidet, mit meinen langen Lederhosen nebst Stiefeln und einem schwarzen Hemd kurbele ich den Altersdurchschnitt ordentlich hoch. Ach, das mag ich. Denn in Leder avanciere ich zum perversen „Daddy“. Zu dem Mann, der die ganzen schmutzigen, sexuellen Spiele mit einem macht und sich aufgrund der altersbedingten Sicherheit nimmt, was er braucht. Ein Daddy, der wie ich reif und ruhig dasteht, verspricht, dass er beim Sex sicher und klar führt. Ich bediene die Vorstellung, dass man sich einfach nur hingeben kann, sich benutzen und mit großer Sicherheit ordentlich penetrieren lässt. Die Blicke, die ich an diesem Abend bekomme, sind devoter Natur. Ich sehe das Weiße im Auge, sehe Pos, die gezielt in meinem Sichtfeld positioniert und zur Geltung gebracht werden.

Aber warum ist das so? Warum sehen wir in einem reiferen, großen Mann immer den Top?

Achtung, es folgen nun viele Klischees und Schubladendenken. Bitte erspart mir Emails mit „aber ich kenne ganz viele, die anders sind“ oder schlimmer noch „aber ich bin nicht so…“. Dass Sexualität vielschichtig und vielseitig ist, ist mir als Sexarbeiter durchaus bewusst. Ich trage hier meine persönlichen Beobachtungen vor.

 

Die Fickrichtungen

Ich stelle fest, dass wir bestimmte Schemata in uns tragen und diese auch reproduzieren, also uns und unsere Sexualpartner:innen sowie unsere Umwelt immer wieder in ebenjene Denkmuster einfügen. Interessanterweise haben die Schwulen das mit der Heterowelt gemeinsam. Und so sehen diese Schemata aus:

1. Alt penetriert Jung
2. Groß penetriert Klein
3. Männlich penetriert Weiblich
4. Stark penetriert Schwach

 

In heterosexuellen Beziehungen

Wie oft sehen wir quasi automatisch in einer jungen Frau eher eine passive, eine annehmende Person oder sogar (zuweilen vorschnell) ein Opfer? Wenn sie zudem klein und dünn ist, steigert sich dieses Empfinden weiter. Gibt sie sich auch noch betont feminin und ein kleines bisschen hilfebedürftig, kann sie sich der aktiven Anmache durch die meisten Männer des Abends sicher sein. Es werden allerdings kaum devote Männer auf sie zukommen.

Hingegen beklagen die Frauen beim Älterwerden den nachlassenden Zuspruch von Männern generell. Auch im Film wird eine Frau „auf jung getrimmt“, während der Mann in Ruhe altern darf. Außer die Frau kombiniert das Alter mit dominanter Kleidung und einem sicheren Auftreten. Wird sie dann zur gefühlten Domina und ist zufälligerweise noch etwas größer, dann liegen ihr wiederum Männer zu Füßen. Demzufolge wird auch im Bett die Führungsrolle von der Frau erwartet. Ich erlebe es im Dominastudio non-stop, dass die Herrschaften gern von den starken Damen anal penetriert werden. Die große Dame sollte spätestens im Alter also zum waschechten Top mutieren (kleiner Scherz).

Das mag extrem klingen, aber ich habe in meinem Leben zu oft von größeren Frauen Beschwerden gehört, weil sie immer in die Dominarolle gebracht werden, eben weil sie groß und stark wirken.

Sie selbst wollen keine kleinen Männer. Denn auch sie haben das Bild verinnerlicht, dass der Mann größer sein muss, wenn er sie penetrieren soll. Auch betrachtet man hier die Außenwirkung: eine Frau mit einem 20 Zentimeter kleineren Mann? Das wären „komische Zustände“. Denn die Fickrichtung ist von außen bereits geklärt (Mann bumst Frau), doch wenn er nicht über die entsprechende körperliche Überlegenheit verfügt, fangen wir reflexartig an zu Schmunzeln. „Groß“ soll bitte eben immer schön „Klein“ bumsen.

 

 

 

In männlich-homosexuellen Beziehungen

Theoretisch sind wir Schwulen im Vorteil. Denn bei zwei Männern ist es letztendlich egal, ob einer kleiner, stärker oder weiblicher ist. Das sieht auf den ersten Blick nicht ulkig aus, denn die Fickrichtung ist nicht immer äußerlich definiert. Und selbst wenn das auf den ersten Blick so wirkt, weil vielleicht einer etwas weiblicher auftritt, dann kann es in der Realität ganz anders sein. Zwar haben auch wir die „Fickrichtungen“ vermutlich im Blut, aber wir alle haben schon unsere Portion Diskriminierung im Leben erhalten, so dass sich der schwule Daddy im Alter beruhigt von seinem kleinen Knaben wegflanken lassen kann.

Homosexuelle Menschen haben grundsätzlich ein höheres Maß an sexueller Selbstreflektion – das haben wir nämlich als Teenies lernen müssen.

Jedoch leben die schematischen Werte auch in uns. Selbst wenn wir Schwulen den besagten Daddy mit seinem Knaben auf der Straße sehen, dann sehen wir automatisch, dass er den Knaben penetrieren wird. Aus diesem Reflex kommen wir, homo oder hetero, nicht raus. Egal, wie oft wir das Gegenteil erlebt haben.

In Filmen sehen wir regelmäßig den großen Mann, wie er eine kleine, zarte und vor allem hilflose Frau aus dem brennenden Haus rettet – zur Belohnung darf er natürlich fein reinhalten. Auch wenn ein kleiner Mann das alles technisch ebenfalls hinbekommen würde, bevorzugt unser inneres Auge dieses Klischee. Natürlich sieht die Realität nicht nur bei der Feuerwehr anders aus.

 

Aber warum wirkt das Schema so zuverlässig?

Warum bringen wir ein größeres Gegenüber so reflexartig in die Top-Rolle? Gibt es dafür evolutionäre Gründe? Geht es darum, dass der Große den kleinen Nachwuchs besser schützen kann? Dass seine Reife dafürspricht, dass er eine gute Portion Lebenserfahrung an den Nachwuchs weitergeben kann? Dass er bestenfalls sogar über ordentlich Geld verfügt, das im Alter häufiger anzutreffen ist? Dann wären wir Gays, sobald wir in den Bottom-Mode einkehren, doch wieder Frauen, die einen „imaginären Nachwuchs“ schützen wollen?

Meine Antwort ist: Ja. Wir leben in einer patriarchischen Welt und haben solche Werte unbewusst verinnerlicht.

So albern sie in der heutigen Welt und insbesondere bei zwei Männern auch sein mögen. Allerdings sind sich die Schwulen häufiger der Rollen bewusst und genießen z.B. eine Opferrolle oder gar sogar einem hypermaskulinen Bild zu entsprechen (siehe Ledermänner). Wir haben es auf dem größten deutschen Gay-Portal „Romeo“ auch hinbekommen, dass wir zwischen „Penetration“ und „Rolle“ trennen. Man kann ja wählen zwischen „Top – Bottom“ sowie „aktiv – passiv“. Leider wird es wenig verwendet oder man möchte nicht sagen, dass man sich als Top auch penetrieren lässt oder als Bottom gern aktiv ist, denn ein paar Blicke genügen und man sieht, dass, obwohl es die Technik zulassen würde, die Tops immer aktiv und Bottoms immer passiv sind.

In der schwulen Welt legen wir sexuellen Wert auf das „Behaviour“, das so genannte „straight acting“. Ich verwende übrigens lieber das Wort „maskulin“ als „heterolike“.

Doch was bedeutet „maskulines Verhalten“ für die Schwulen?

In der Heterowelt darf eine Frau ruhig mal etwas männlicher sein. Und auch wenn der weibliche Mann schnell belächelt wird, sehen wir vor unserem inneren Auge beim Hetero-Sex eines solchen Paares trotzdem die Fickrichtung „Mann penetriert Frau“. Bei Schwulen sieht das anders aus. Wenn bei einem Paar einer ein bisschen weiblicher auftritt, dann hat der gefälligst ein waschechter Bottom zu sein – denn das Weibliche muss ja vom Männlichen penetriert werden.

Noch deutlicher wird es bei schwulen Switchern. Scrollen wir durch die gay-quick-sex-App „Grindr“, lesen wir von Jungs, die selber nur toppen, wenn der Andere kleiner ist, und es wird häufig ein „Maximalalter“ angegeben. Ihre eigene Top-Suche hat dann wiederum die entsprechenden Parameter: der Top muss größer oder älter sein.

 

Die Rolle des Alters und der physischen Attraktivität

Aber warum ist es so, dass wir kleinere Menschen wie selbstverständlich in die Bottom-Rolle stecken? Nun, ein kleinerer Körper kann von einem größeren leichter kontrolliert und beherrscht werden. Da steckt das Wort „Herr“ ja schon drin und da haben wir die Rollen wieder. So sollte der Herr seiner „herrlichen“ Rolle der Führung fein gerecht werden – quasi durch seine körperliche Überlegenheit.

Warum ein Bottom für einen Top wiederum möglichst jung sein muss, lässt sich wiederum mit der Evolution erklären. Denn innerlich sehen wir dort wieder die Reproduktion. Es mag für Schwule paradox scheinen, aber offenbar übernehmen selbst wir die männlich-reproduktiven Triebe der Heterokollegen:

Jugendliche Körper sind in reproduktiver Hinsicht erfolgsversprechender als ältere. Ich erlaube hiermit ein kollektives Ablachen über unser Unterbewusstsein.

Okay, ich höre schon Stimmen, die ihre sexuelle Motivation an der Optik festmachen, à la „ich mag nur straffe Popos“. Dabei müssen wir bedenken, dass das Straffe und Glatte eben genau diese „Jung-Signale“ aussendet, die unser Unterbewusstsein entsprechend verwertet. Unser Unterbewusstsein hat viel mehr Kontrolle über uns, als wir es wollen. Es erklärt uns, warum wir jeden „weiblichen“ Schwulen instinktiv in die Bottom-Rolle stecken, und, wenn derjenige genau andersrum empfindet, uns darüber amüsieren oder schlimmer noch anfangen ihn zu diskriminieren. Im Falle von Beschimpfungen: shame on you.

 

 

 

Woher kommen diese Schemata also?

Und damit ist es an der Zeit, uns zu fragen: Was war eher da? Haben sich der Bottom und der Top in ihre Rollen eingefügt, weil sie ihnen von der Natur in die Wiege gelegt wurden? Oder haben sie ihre Rollen durch das Soziale erst gelernt? Darauf haben wir noch keine klaren oder einfachen Antworten. Vielleicht erfahren wir es, wenn wir irgendwann wissen, wie Sexualität grundsätzlich entsteht. Bisher gehen wir von einer Mischung aus genetischen sowie erlernten Faktoren aus.

Ich will auch unser Unterbewusstsein und unsere daraus resultierenden verinnerlichte Fickrichtungen nicht kritisieren. Ich glaube, dass wir solche Rollenbilder schön in viele Spiele einbauen können.

Wir können sie auch positiv nutzen, zum Beispiel bei Schamspielen. Es ist nicht notwendig, dass wir uns grundsätzlich ändern, nur weil diese Instinkte heute ja nicht den Gegebenheiten entsprechen. Wir brauchen schließlich nicht immer einen großen Mann, der uns beschützt. Und Schwule zeugen biologisch sowieso selten Kinder.

Durch die schematischen Rollenbegehrlichkeiten entstehen allerdings auch Ungleichgewichte, die das Ausleben der Sexualität erschweren. Wenn zum Beispiel der ältere, muskulöse, starke Mann in keinster Weise für eine Bottom-Rolle begehrlich ist. Das gilt wieder für die männliche Homosexualität sowie für die Heterosexualität.

 

Was tun wir also mit diesen Schemata?

Ich bin dafür, dass aus derartigen Erkenntnissen über unser Unterbewusstsein kein Shaming (Stichwort: Bottom-Shaming) entstehen darf. Political Correctness ist hier für den Umgang miteinander ein großer Vorteil und sorgt fürs Wohlfühlen. Lasst uns alle in Ruhe unsere Schemata genießen und ein positives Lebensgefühl entwickeln. Aber es schadet nicht, wenn wir uns der unbewussten Steuerungen bewusst werden.

Wenn wir diese Rollenbilder als ein Element unserer Sexualität oder die der Anderen verstehen, können wir sie vielleicht auch mal ausblenden, um bei der Partnerwahl, beim Clubbing, auf der Dating-Plattform oder schlicht bei der nächsten Nummer einen Vorteil für uns selber zu gewinnen.

Ich hörte von großen und beleibten Frauen, die vor Knaben knieten und dabei klatschnass wurden, von Transvestiten, die Muskelhengste wegballern und von schüchternen Nerds, die trotz Stottern und Ängsten den Mega-Dom im Bett gegeben haben.

Und wenn das dann trotzdem nicht funzt, wird die Bedeutung der Sexarbeit für eine freie Gesellschaft deutlicher. Dazu in der nächsten Kolumne mehr.

 

Fotos: © dominus.berlin

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Der Kolumnist

Master André alias Dominus.Berlin (1976) ist seit Jahren als Dominus in Deutschland, Schweiz und Österreich (www.dominus.berlin) tätig und gilt als Branchenführer der männlich-dominanten Sexarbeit.

Der gebürtige Rheinländer arbeitet seit Jahren in den bekanntesten Dominastudios sowie ebenfalls als Dozent für Themen rund um BDSM. Er ist zudem Sprecher für den Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD).

 

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